14. September 2021
Wenn man einen umfassenden Eindruck vom aktuellen Status der Digitalisierung in Deutschland gewinnen will, genügt womöglich ein Blick in die Gemeinde Wiesenburg/Mark im brandenburgischen Potsdam-Mittelmark. Hier, im Ortsteil Reppinichen, überwiegt der Ackerbau, rings herum lädt der Naturpark Hoher Fläming Wochenendtouristen und Reisende zu Wanderungen und Radtouren ein.
Abseits der Schönheit dieser Kulisse voll landwirtschaftlicher Kulturgüter herrscht die Tristesse bei jenen, die den digitalen Anschluss an die Außenwelt suchen. Denn dieser Anschluss existiert nicht – oder nur in sehr überschaubaren Bitraten. Ablesbar ist dies an einer Karte, die von der Bundesnetzagentur bereitgestellt wird und die jeweils aktuelle deutschlandweite Netzverfügbarkeit abbildet. Die Aneinanderreihung farblich markierter Hexagone zeigt: In Reppinichen beträgt der prozentuale Anteil von Flächen ohne Empfang teilweise bis zu 50 Prozent. Viel Funkloch in jener Region Brandenburgs – wie an vielen anderen Stellen auch. Denn solche Farbsprengsel lassen sich über die gesamte Republik verteilt entdecken: Insgesamt 3,8 Prozent der Fläche in Deutschland sind komplett ohne Mobilfunkversorgung oder allenfalls mit dem alten 2G-Netz abgedeckt. Während in Schweden selbst auf den abgelegensten Landstraßen Messengerdienste und Streamingplattformen problemlos funktionieren, sucht mancher zwischen Möckern und Bad Belzig vergeblich nach schnellen Daten-Übertragungen.
Der Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland ist symptomatisch für die Schwierigkeiten, das einst sinnbildlich betretene „Neuland“ endlich mit einer langfristig angelegten Strategie zu füllen. Dabei legen immer wieder aktuelle Untersuchungen die Versäumnisse der Bundesregierung schonungslos offen. So auch der „Digital Riser Report 2021“ vom European Center for Digital Competitiveness, einem Forschungsinstitut mit Sitz in Berlin, das den Digitalisierungsstatus einzelner Länder im internationalen Kontext betrachtet. Schnell wird klar: Im Marathon um die technologische Vorherrschaft scheint das bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union nicht einmal die erste Kurve bewältigt zu haben: Unter den sieben wichtigsten Industrienationen (G7) landet Deutschland auf einem beschämenden vorletzten Platz. Ausgeweitet auf die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer bleibt lediglich Platz 17 – zwischen Südafrika (Platz 16) und Japan (Platz 18). Die drei größten „Digital Riser“ sind China, Saudi-Arabien und Brasilien.
Auch wenige Tage vor der Bundestagswahl scheint die politische Dimension dieser Versäumnisse noch nicht bis zu den Parteizentralen sowie den Kanzleramts-Anwärtern durchgedrungen zu sein: In den Wahlkämpfen wurde dem Thema “Digitalisierung” kaum eine Sekunde gewidmet, auf Wahlplakaten ist das Thema hinter mäßig aufwühlenden Slogans wie “Für ein modernes Deutschland” (CDU) und “Kompetenz für Deutschland” (SPD) allenfalls zu erahnen.
Dabei ist der Digital Native – Anfang der 2000er als Bezeichnung für Technologie- wie Medien-affine Mensch ins Leben gerufen – längst nicht mehr einem elitären Kreis von Startup-Gründern, Let’s Play-Süchtigen und Elon Musk-Anhängern zuzurechnen.
Er ist einer Generation zugehörig, die der Wirtschaftspotenz des Landes inzwischen gehörig Schubkraft verleiht – und auch wählen geht. Umso unverständlicher bleibt der fehlende politische Wille, über halbherzig umgesetzte E-Government-Gesetze und Digitalisierungspakte für die Schulen hinaus die Vision einer Digitalisierungsnation zu konstruieren. Es wäre Zeit, denn inzwischen fällen auch die Deutschen über das Modernisierungstempo des Landes ein vernichtendes Urteil, wie eine weitere Studie des European Center for Digital Competitiveness vom Anfang dieses Jahres aufzeigt. Demnach meinten im Jahr 2020 bemerkenswerte 92 Prozent der befragten Bürger*innen und Führungskräfte, dass Deutschland in Bezug auf den aktuellen Stand der Digitalisierung hinterherhinkt. Ein Jahr zuvor waren es noch drei Prozentpunkte weniger gewesen. Noch erschreckender zeigen sich die Zahlen in Bezug auf das Vertrauen der Bevölkerung in ihre politischen Vertreter. 59 Prozent waren der Meinung, dass es niemanden gibt, der die Digitalisierung besonders vorantreibt. Mit spärlichen 4 Prozent landete der FDP-Vorsitzende Christian Lindner an der Spitze der Liste, vor CSU-Chef Markus Söder (2 Prozent) und Staatsministerin Dorothee Bär (2 Prozent, CSU). Unter den Parteien konnte sich die CDU/CSU mit 23 Prozent durchsetzen, weit vor den Grünen (7 Prozent) und der FDP (7 Prozent). Zum Thema Digitalisierungskompetenz äußerten sich allerdings über die Hälfte der Befragten “unentschieden” (35 Prozent) oder befürworteten “keine Partei” (25 Prozent).
All diese Zahlen unterstreichen das Dilemma eines Landes, das in seinem Vertrauen auf die konventionellen Industriezweige den politischen Kompass für die neuen Zukunftstechnologien verloren zu haben scheint. Oder das Thema Digitalisierung nicht als wesentlichen Faktor hierfür erkannt hat.
Dabei mangelt es nicht am Investitionspotenzial des Bundes: Allein das Bundeswirtschaftsministerium vergibt im Jahr 2021 im Rahmen seines Förderprogramms “Digital Jetzt” 114 Millionen Euro an kleine und mittelständische Unternehmen für den Auf- und Ausbau ihrer Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit durch die digitale Transformation. Ein wirklicher politischer Wille, den Umbau des Staates nach Vorbild vieler anderer Vorreiter wie Finnland, Schweden, Niederlande oder Estland in Sachen Konnektivität, Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung oder Ausbau digitaler Kompetenzen voranzutreiben, fehlt.
Doch was plant die Politik? Bei der Analyse der Wahlprogramme übertrumpfen sich die zur Wahl stehenden Parteien mal mehr, mal weniger mit dem Formulieren großer Ziele. Nur wenige Beispiele:
Ungeachtet der unterschiedlichen Schwerpunkte und Konzepte, von Datenschutzbetrachtungen, Regulierungsvorstellungen und sozialen Fragen scheinen sich die Parteien darin einig zu sein, dass die Digitalisierung in allen Bereichen mit großem Tempo vorangetrieben werden muss. Dazu gehören der Ausbau des Mobilfunknetzes, die Digitalisierung der Öffentlichen Verwaltung, des Gesundheits- sowie des Bildungswesens. Ob es über bloße Lippenbekenntnisse hinausgehen wird, bleibt abzuwarten. Viel Zeit wird die neue Regierung jedenfalls nicht haben, die desaströsen Zahlen und die deutlichen Vertrauensdefizite seitens der Wähler, wie sie sich in den letzten Studien abzeichneten, nachhaltig zu korrigieren.
Denn auch in Reppinichen, tief in der brandenburgischen Provinz, wird irgendwann die Geduld aufgebraucht sein.
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