21. April 2020
Während in anderen Ländern die Digitalisierung längst zur zentralen Frage des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts erhoben wurde, entwickelte man in Deutschland noch Apps zum Aufspüren von Funklöchern. Doch in Zeiten einer weltumspannenden Krise ändert sich auch hierzulande schlagartig das Bewusstsein für das Thema. Das wird auch nötiger denn je. Gerade jetzt.
Ein neuartiges Coronavirus hält die Welt weiter in Atem. Die Grenzen sind dicht, Veranstaltungen finden nicht mehr statt, zahlreiche Betriebe haben geschlossen. Das öffentliche Leben ist weitestgehend zum Erliegen gekommen.
Auch in Estland. Hier wurden ähnliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wie in vielen anderen europäischen Staaten beschlossen und der Ausnahmezustand ausgerufen: Verbot öffentlicher Versammlungen, Schließung von Schulen und Universitäten, Social Distancing. Doch das in den letzten Jahren wirtschaftlich stark prosperierende Land im Norden des Baltikums scheint – ungeachtet der konjunkturellen Bremswirkung – gut gerüstet für die aktuellen Herausforderungen. Grund: eine komplette digitale Infrastruktur, durch die der Staat seine 1,3 Millionen Einwohner nun tapfer durch die Pandemie manövriert.
Beantragungen von Personalausweisen, An- und Abmeldungen von Wohnungen, Ausstellungen neuer Führerscheine: All dies erfordert längst keine Anwesenheit der Bürger in überfüllten Wartebereichen von Bürgerämtern. Alles passiert digital. So werden in Estland inzwischen 99 % aller stattlichen Verwaltungsleistungen online abgewickelt. Selbst für die Unterzeichnung eines Mietvertrags ist keine persönliche Begegnung von Wohnungsanbieter und -interessent notwendig.
Zum Gründungsmythos Estlands als technologische Vorzeigenation Europas gehört der sogenannte „Tigersprung“ – ein Programm, das nach der Unabhängigkeit Estlands Mitte der 90er-Jahre neue Impulse für eine komplette Reform von Regierung, Justiz und Verwaltung setzen sollte. Zu den ersten Meilensteinen im Rahmen jener Modernisierungsprozesse gehörte die Ausstattung aller Schulen des Landes mit Internetverbindung und Computern. Im Jahr 2000 wurde das elektronische Steuersystem eingeführt, die Steuererklärung lässt sich heute innerhalb von fünf Minuten erledigen.
Fünf Jahre später ermöglichte Estland seinen Bürgern als erstes Land der Welt, online an Wahlen teilzunehmen. E-Voting ist heute Standard, genauso wie e-Residency, eine länderübergreifende digitale Identität, über die jeder Mensch und vor allem jedes Unternehmen direkt auf estnische Services zugreifen kann.
Nun ist Estland nur bedingt mit Deutschland vergleichbar, schon was Bevölkerungszahl und Gesamtfläche betrifft. Und auch östlich der Ostsee hat man – neben einer eifrigen Hacker-Community – zuweilen mit weniger technischen Problemen zu kämpfen, etwa wenn – wie Ende 2019 in Tallinn geschehen – Ratten die Glasfaser-Datenkabel von zwei staatlichen Datenzentren annagen und dadurch die Computersysteme ausfallen.
Hartnäckige Nagetiere sind in Deutschland nicht das Problem. Vielmehr wird das Thema Digitalisierung noch immer als notwendiges Zugeständnis an die Zukunft betrachtet, nicht als Möglichkeit, den Problemen der Vergangenheit und Gegenwart angemessen zu begegnen. Um sich die Defizite vor Augen zu führen, braucht es keine Pandemie jener Ausmaße, wie wir sie aktuell erleben. Die Vermeidung unnötiger Menschenansammlungen in Bürgerbüros und Klassenräumen ist auch abseits der Anwendung von Infektionsschutzgesetzen durchaus begrüßenswert. Doch nun, in dieser speziellen Ausnahmesituation, sind Warteschlangen in Kfz-Zulassungsbehörden und Bürgerämtern nicht ein überflüssiges Ärgernis, sondern zudem ein Ansteckungsrisiko.
Bis Ende 2022 haben die deutschen Behörden Zeit, im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) ihre Dienstleistungen auf Verwaltungsebene komplett digital bereitzustellen. Leider hat COVID-19 diese Frist nicht abwarten können – nun mussten bundesweit Rathäuser, Finanzämter und alle anderen öffentlichen Stellen ihre Pforten schließen. Dann halt alles digital? Leider nein: Trotz des Bemühens, eine kontinuierliche Aufrechterhaltung der Serviceangebote zu gewährleisten, sind dem WDR-Projekt „docupy“ zufolge gerade einmal drei von etwa 600 Leistungen auf rein digitalem Wege nutzbar, das heißt: Antrag aufrufen, ausfüllen, abschicken. Für mehr als 400 Leistungen ist noch immer ein Papierausdruck erforderlich. Viele kommunale Behörden (wie beispielsweise die Stadt Schorndorf in Baden-Württemberg) sind zwar längst einige Schritte weiter, doch von einer digitalen Revolution in den Öffentlichen Verwaltungen, wie sie in der industriellen Produktion zunehmend anläuft, kann noch keine Rede sein. Immerhin: Die Soforthilfen für Klein-Betriebe und Solo-Selbstständige laufen zum Großteil in rein digitalen Verfahren ab.
Aber nicht nur die staatliche Administration sieht nun größeren Handlungsbedarf denn je. Auch für viele Unternehmen zeigt sich jetzt in aller Deutlichkeit, dass Homeoffice-Angebote mehr als ein sympathisches Lockmittel für die eigenen Stellenausschreibungen darstellen. Der standortunabhängige Zugriff auf das Firmennetzwerk ist für viele Betriebe, die ihren Angestellten den Weg zur Arbeit mit dem öffentlichen Nahverkehr oder dichtgedrängte Arbeitsplätze in stickigen Büroräumen ersparen wollen oder müssen, das entscheidende „Antibiotikum“ gegen Umsatzeinbußen, Kurzarbeitsregelungen und revoltierende Gewerkschaften.
Für die meisten Mitarbeiter ist eine Flexibilisierung der Büroarbeit jedoch längst keine Frage von Bequemlichkeit und Pendlerpauschale mehr – während der Pandemie müssen Millionen von Kindern zu Hause betreut und unterrichtet werden. Aber auch über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinaus zeigen aktuelle Studien, dass die Heimarbeit für eine größere Zufriedenheit bei den Beschäftigten sorgt und den Unternehmen ein positiveres Image verschafft. Aktuell bieten laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom knapp 50 Prozent der deutschen Unternehmen Arbeit teils oder komplett von zu Hause an. Corona macht es möglich. Davor waren die Widerstände oft strukturell bedingt: Zum einen fehlte es an den technologischen Voraussetzungen, um das gesamte Unternehmenswissen zentral und zugleich zugriffssicher bereitzustellen. Zum anderen dominierten noch immer zahlreiche Vorbehalte seitens der Arbeitgeber, die ihren Angestellten die selbstverantwortliche Organisation ihrer Aufgaben im häuslichen Umfeld nicht zutrauen wollen. Doch jetzt scheint sich einiges zu bewegen.
Und ein Umdenken ist nötig, mehr denn je. Zuversichtlich stimmt, dass einiges bereits passiert, auch während der Corona-Pandemie, wie ein Beispiel aus Niedersachsen zeigt. So können vor Ort ansässige Unternehmen ab sofort Zuschüsse für Homeoffice-, Videokonferenz- und Telemedizintechnik beantragen. Bis zu 10.000 Euro verteilt das Förderprogramm Digitalbonus Niedersachsen zu diesem Zweck. Andere Bundesländer stellen bereits ähnliche Förderungen bereit. Was bis vor einigen Wochen noch den wenigen innovationsfreudigen Geschäftsführern und IT-Leitern vorbehalten war, ist nun in die Verantwortung der Ministerien übergegangen. Und diese zeigen auf einmal, was in Sachen Digitalisierung möglich ist – ganz unbürokratisch und praxisorientiert. Für die deutsche Privatwirtschaft kann dies nur ein unüberhörbarer Weckruf sein. Für die öffentliche Verwaltung ohnehin.
Zuweilen braucht es die richtigen Impulse, um den Schritt in eine digitalere Zukunft zu wagen. Sollte die Corona-Pandemie hierfür gesorgt haben, wäre dies zumindest ein positiver Aspekt, den man aus der Krise gewinnen könnte. Vielleicht genügt aber auch einfach ein Blick nach „E-Estland“. Dessen Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid hat vor einigen Wochen berichtet, sie hätte in ihrem Leben noch nie einen Steuerbeamten gesehen. Und die meisten Bürger wüssten nicht einmal, wo die Verwaltung ihren Sitz habe. Nicht überraschend für ein Land, das alles online anbietet.
Nur heiraten müssten die Bürger noch ganz klassisch – vor Ort und analog.
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